Werkstattbericht aus dem Refugium

Dr. Martin Sieber:

Kinder und Jugendliche nach Flucht und Trauma – was hilft?

Ein Werkstattbericht aus dem Refugium Freiburg zur Differenzialindikation verschiedener Interventionsformen (Stand: Januar 2022)

Einführung

Bei der Frage nach der Differenzialindikation verschiedener Interventionsformen bei traumatisierten Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung stellt sich zunächst die grundlegende Frage:

Was sind überhaupt die Probleme, wegen derer Kinder und Jugendliche im Refugium vorgestellt werden?

Häufig genannt werden: Lernschwierigkeiten und Symptome wie bei einer ADHS, Schlafstörungen und schlechte Träume, Flashbacks, Dissoziative Zustände (welche oft als solche nicht erkannt werden und viel Angst und Verunsicherung auslösen), zu viel Handykonsum, fehlende Freizeitaktivitäten und Freundschaften in der Schule, Streit mit den Geschwistern, Hyperarousal, Aggressivität/Dissozialität, mangelnder Respekt für die allein erziehenden Mütter – aber fast immer wird diese Problematik auf der „Kinder-Seite“ ergänzt und überlagert durch Klagen über die Wohnsituation, Unsicherheiten des Aufenthalts-Status der Familie mit befürchteter Abschiebung, oft damit verbunden der Wunsch nach einem Gutachten, Ungerechtigkeiten der Sozialarbeiter im Wohnheim oder der Gerichte, Perspektivlosigkeit der Väter ohne Arbeitserlaubnis, Unverständnis bezüglich der Anforderungen der Schule an die elterliche Mitarbeit, Sorgen um Familienmitglieder, die im Heimatland von Bürgerkrieg und Verfolgung bedroht sind. Und bei behutsamer und empathischer Gesprächsführung kommt oftmals hinzu: eine depressive Symptomatik der Mutter, beschämt als Analphabetin und überfordert von den Anforderungen eines Integrationskurses, oder: eine posttraumatische Belastungsstörung bei beiden Eltern, welche  als eigenes Versagen erlebt wird. Dies bedeutet:

Nur ein Teil der geschilderten Problematik betrifft die Kinder und  Jugendlichen direkt, manchmal liegt die Problematik bei den Eltern oder in der Familie, häufig und oft zu Recht wird sie als das Problem einer unwirtlichen Lebensrealität in der Fremde erlebt.

Kindertherapeuten (der Begriff soll im Folgenden pars pro toto für Kinder und Jugendliche stehen) sind für diese Komplexität eigentlich gut gerüstet. Denn diese Komplexität ist im Feld von Flucht und Trauma nicht prinzipiell anders als in den übrigen Arbeitsfeldern. So ist es für Kindertherapeuten seit jeher klar, dass es so gut wie nie nur die Problematik des Kindes ist, um die es bei einer Vorstellung geht. Aber die Dimension der Probleme im Umfeld eines geflüchteten Kindes und seiner Familie ist gänzlich anders: manchmal scheint es so, als verschwinde das spezifische Problem des Kindes hinter der Problematik des Lebensumfeldes.

Auch bezüglich der Interventionsformen nutzen Kindertherapeuten seit jeher nicht nur die Einzeltherapie mit dem Kind sondern auch weitere Möglichkeiten. Es ist dabei die Regel, dass die Behandlung eines Kindes auch die der Eltern zumindest in Form einer Beratung mit einschließt und dass auch das weitere Umfeld (zum Beispiel Kindergarten und Schule) mit in den Blick und in das Spektrum möglicher Interventionen genommen wird.

Als Kindertherapeuten wissen wir, dass die Einzeltherapie mit einem Kind nicht gelingen kann, wenn diese nicht von einer zumindest halbwegs förderlichen Lebensumwelt gerahmt wird. (Der Satz von Winnicott: „There is no such thing as a baby“ gilt nicht nur für Babys!) Wenn aber diese Grundvoraussetzung nicht erfüllt ist, steht neben der Einzelarbeit mit dem Kind zwingend die Aufgabe,  mit den Eltern oder dem weiteren sozialen Umfeld einen solchen Rahmen zu schaffen. Hierzu braucht es oft die Kooperation mit anderen Professionen.

Dies gilt insbesondere für geflüchtete Menschen. Neben den professionellen Helfern ist zusätzlich die Unterstützung seitens des Umfeldes und der Zivilgesellschaft notwendig, um die Ressourcen für ein gelingendes Leben bereitzustellen. Aber oftmals bleibt dies notdürftig; oftmals sind Therapeuten und Ärzte gegenüber den Realitäten des Flüchtlings-Alltags, der Asylverfahren und der kulturellen Barrieren genauso hilflos wie die Betroffenen selbst. Wer in diesem Feld arbeitet, muss diese Hilflosigkeit ein Stück weit mit seinen Klienten teilen und ertragen, darüber hinaus akzeptieren, dass es nicht nur um die Anwendung spezifischer therapeutischer Werkzeuge geht, sondern auch um sozialarbeiterische und gesellschaftspolitische Tätigkeiten. Auch wenn es vielleicht nicht gelingt, eine „zumindest halbwegs förderliche Lebensumwelt“ für das Kind zu schaffen, so können wir mindestens dafür kämpfen und darauf hinarbeiten.

Nur unter dieser Prämisse, der notwendigen Rahmung einer Kindertherapie durch flankierende soziale Interventionen, ist die Frage der Differenzialindikation spezifischer Maßnahmen sinnvoll zu beantworten. Im Bewusstsein der Begrenztheit unserer Ziele angesichts der nicht ad hoc veränderbaren Realitäten finden wir pragmatische Antworten.

Dabei steht uns ein bunter Strauß von Interventionsmöglichkeiten zur Verfügung. Zum einen handelt es sich um Maßnahmen, die von der Krankenkasse finanziert werden, zum anderen um Maßnahmen der Jugendhilfe einschließlich Interventionen in der Schule und schließlich haben wir als „therapeutisches Werkzeug“, die Möglichkeit, eine gutachterliche Stellungnahme zu verfassen und damit Weichen zu stellen.

Zur 1. Gruppe gehören die psychodynamische, verhaltenstherapeutische und familientherapeutische Psychotherapie, ergänzt durch spezifische traumatherapeutische Techniken, wobei höherfrequente von niederfrequente-stützenden Vorgehensweisen unterschieden werden können, dazu die Kunsttherapie, die Logopädie, die Ergotherapie, die Krankengymnastik und auch die medikamentöse Therapie, ferner die (teil-)stationäre kinderpsychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung.

Zur 2. Gruppe zählen die Heilpädagogik, die sozialpädagogische Familienhilfe mit dem Sonderfall der intensiven Einzelfallhilfe, die Erziehungsbeistandsschaft, die soziale Gruppenarbeit, die Betreuung in einem heilpädagogischen Hort, bis hin zu teil- oder vollstationären Jugendhilfemaßnahmen.

Zur 3. Gruppe gehören Gutachten für Gerichte im Asylverfahren, Stellungnahmen zur Familienzusammenführung oder zum Wohnungswechsel  und die Mitwirkung bei den Verfahren der Jugendhilfe.

Dabei ist nicht zu vergessen, dass nicht immer kindspezifische Interventionen sinnvoll und notwendig sind sondern dass manchmal das Kind nur der Indexpatient ist und etwas ganz anderes,  zum Beispiel die Veranlassung der Psychotherapie eines Elternteils, notwendig ist.

Im Rahmen dieses Werkstattberichts können diese Interventionsformen nicht systematisch untersucht werden. Vielmehr geht es um die schlaglichtartige Darstellung einiger häufig auftretender, typischer Konstellationen anhand verschiedener Fallvignetten. Dabei wird deutlich werden, dass häufig auch  verschiedene Interventionen, teilweise zeitlich versetzt aber auch zeitgleich in Kombination notwendig sind.

Die Komplexität der Vorgehensweise – eine Fallvignette

Vorbemerkung: Namen und einige Aspekte der Lebensgeschichte wurden aus Gründen des Datenschutzes so verändert, dass keine Rückschlüsse auf die reale Familie möglich sind.

Der Fall: Die heute 10-jährige A. wurde erstmals vor 3 Jahren, und jetzt erneut vor einem Jahr im Refugium vorgestellt. Die muslimische Familie stammt aus einem afrikanischen Land, welches nach wie vor vom Bürgerkrieg terrorisiert wird. Dem Vater gelang die Flucht bereits vor 6 Jahren; dabei kam es zu massiven Traumatisierungen. Die Mutter lebte zunächst weiter im Heimatland und kam erst vor dreieinhalb Jahren im Rahmen der Familienzusammenführung mit ihren 4 Kindern nach Deutschland, wo sie rasch wieder schwanger wurde. Vorstellungsanlass war, dass A. und ihr ein Jahr älterer Bruder den Vater in keiner Weise respektierten frech waren und wieder nach Afrika zurück wollten. Es erfolgte eine Familienberatung/-therapie im Refugium unter Einschaltung einer Dolmetscherin, was in wenigen Sitzungen zur Beruhigung dieser Dynamik führte, sodass weder die Eltern noch die Kinder weitere Termine wünschten. Allerdings wurden die posttraumatische Belastungsstörung des Vaters und seine schwere Depression erstmals im Rahmen eines Elterngesprächs offenbart. Der Vater konnte in eine psychiatrische Behandlung sowie eine muttersprachliche Psychotherapie vermittelt werden. Eine differenzierte Diagnostik der beiden Kinder erfolgte nicht, obwohl Hinweise auf eine Lernproblematik von A. im Heimatland vorlagen. Denn wegen der Schwangerschaft und der anstehenden Entbindung wollte die Mutter keine weiteren Termine wahrnehmen. Den Kindern gehe es doch jetzt gut. Auch das Angebot einer sozialpädagogischen Familienhelferin wurde abgelehnt.

Etwa ein Jahr später kam niemand auf die Idee, das Refugium erneut zu konsultieren, als  die Familie das Wohnheim, in welchem sich alle wohl gefühlt hatten, wegen Gewalttätigkeit des Vaters im Rahmen einer manischen Phase verlassen musste. Es hat den Anschein, dass in diesen Turbulenzen mit Wechsel der Zuständigkeiten des Sozialdienstes die Situation von A.  wohl etwas aus dem Blick geraten ist.

Erst zwei Jahre später kam es zur erneuten Vorstellung auf Veranlassung der Schule: A. komme im Unterricht überhaupt nicht mit und mache immer wieder Äußerungen, sie wolle nicht mehr leben. Die Diagnostik ergab eine ausgeprägte Lernbehinderung mit der Konsequenz der Notwendigkeit eines Wechsels auf die Förderschule. In einer Reihe von Gesprächen mit einer Kindertherapeutin im Refugium wurde der Hintergrund der Suizidalität nicht klar aber es wurde deutlich, dass A. darunter litt, dass sie ihr Aussehen und insbesondere die sehr dunkle Hautfarbe nicht akzeptierte,  dass sie in der Schule keine Freunde habe, nicht so gut lernen könne wie der Bruder, wobei ihre Äußerungen sehr wortkarg waren und nur wenig Möglichkeiten der Introspektion zu erkennen waren. Die Gespräche mit ihr liefen nach wenigen Sätzen ins Leere und waren auch durch verbale Interventionen nicht wieder in Gang zu bringen. Aber: auf Spiel-und Bastelangebote reagierte sie sehr positiv und sie ließ sich regelrecht dafür begeistern. Zuwendung schien sie gleichsam aufzusaugen. Bezüglich der Arbeitshaltung, der Konzentrationsfähigkeit, der feinmotorischen Funktionen und der emotionalen Reife ergab sich ein Entwicklungsrückstand. Von Suizidalität war A. rasch distanziert. Sie kam ausgesprochen gerne, konnte die Termine wegen der räumlichen Distanz aber nicht selbstständig wahrnehmen. Die Familiensituation war weiterhin schwierig, wobei wenig Bereitschaft der beiden Eltern bestand, Termine wahrzunehmen und hierüber zu sprechen.

Folgende Maßnahmen schienen uns sinnvoll aber im Rahmen des Refugiums nicht leistbar, d.h. diese waren zu organisieren: eine heilpädagogische Einzelbehandlung mit begleitenden Elterngesprächen sowie die Nachmittagsbetreuung in einem heilpädagogischen Hort. Der Wechsel auf eine der Begabung angemessene Schulform stieß in der Schule auf offene Ohren, die Eltern mussten aber mühsam von der Notwendigkeit überzeugt werden.

Reflexion zur Differenzialindikation: Heilpädagogik erschien uns sinnvoller als Psychotherapie, da  A. eine Förderung und eine emotionale Nachreifung am ehesten mit den Methoden der Heilpädagogik vermittelt und für eine Verhaltenstherapie ein Fokus des zu verändernden Verhaltens nicht identifiziert werden konnte. Die Möglichkeit der Arbeit an einem inneren Konflikt (tiefenpsychologisch orientierte Therapie) schien in weiter Ferne. Der Vorteil der Heilpädagogik gegenüber anderen übenden Verfahren lag für uns darin, dass sie eine ausreichend lange Behandlungsdauer bietet, Elterngespräche im Behandlungskonzept mit integriert sind und dass im konkreten Fall von A. die Umsetzung in räumlicher Nähe auch praktisch umsetzbar war. Eine aufsuchende sozialpädagogische Familienhilfe wurde von den Eltern weiterhin abgelehnt. Eine langfristige therapeutische „Begleitung“ war uns auch deswegen wichtig, da der Hintergrund der Suizidalität nach wie vor unklar schien. Wir fragten uns: Steckt vielleicht ein Familiengeheimnis dahinter, über das sie nicht sprechen kann/darf? Wir dachten: Ein solches wird A. nur im Rahmen einer haltgebenden langfristigen Beziehung zur Therapeutin offenbaren können. Auch hierum ging es bei der Wahl der Therapieform. Differenziertere Überlegungen, wann und warum welche kindzentrierte Behandlung eingesetzt werden soll, ließen sich aus dieser Fall-Vignette ableiten. Dies bleibt aber einem kommenden Newsletter vorbehalten, der sich speziell mit der Frage auseinandersetzen wird, aus welchen Gründen eine Therapieform der anderen manchmal vorzuziehen ist: Verhaltenstherapie – tiefenpsychologische Therapie – systemische Therapie  – Heilpädagogik – übende Verfahren?

Zusammenfassung: An dieser Stelle soll diese Fall-Vignette zeigen, wie schwierig und komplex die Problematik und auch das Vorgehen im Refugium sind. Verschiedene Anläufe wurden notwendig: im ersten führte die Vorstellung des Kindes dazu, eine psychische Erkrankung des Vaters und eine familiäre Verwerfung aufzudecken. Dabei gelang es, eine Behandlung des Vaters einzuleiten. Es gelang aber nicht, ein für die Familie akzeptables Angebot zu machen, um über die familiäre Dynamik zu sprechen. Es gelang auch nicht, eine angemessene Form der Diagnostik für die spezifische kindliche Problematik umzusetzen. Hierfür war ein zweiter Anlauf erforderlich. Dabei ergab sich die Notwendigkeit und auch die Möglichkeit eines komplexen Vorgehens mit Intervention in der Schule, Bereitstellung eines heilpädagogischen Horts und der Einleitung einer Einzeltherapie mit einer längeren Perspektive in Kombination mit einer Elternberatung. Die Delegation der eigentlichen Arbeit mit dem Kind heißt: die Not des Kindes, ausgedrückt durch Suizidalität wurde gesehen aber nicht wirklich verstanden. Auch im 2. Anlauf ist es wiederum nicht gelungen, ein für die Familie akzeptables Angebot umzusetzen, die offensichtlich schwierige familiäre Dynamik anzugehen. Vielleicht braucht es hier noch einen dritten Anlauf? Die Fallvignette macht deutlich: nicht alles, von dem wir denken, es sei hilfreich, lässt sich auch umsetzen.

Auf der Ebene der Institution zeigen die Überlegungen dieser Einführung und die auch Fallvignette: Refugium Freiburg leistet als Anlaufstelle für traumatisierte geflüchtete Menschen „psychosoziale und medizinische Beratung und Koordinierung“, ist also weit mehr als eine psychotherapeutische „Trauma-Ambulanz“. Es ergibt sich aus der Darstellung des Falls, dass mehrere Personen und Professionen im „Ki-Ju-Team“  an den verschiedenen Interventionen beteiligt waren – ein notwendiges Spezifikum unserer Arbeit, die nur möglich ist in einem multiprofessionellen Team, welches neben der Tätigkeit von ÄrztInnen, TherapeutInnen, SozialarbeiterInnen auch einen organisatorischen Rahmen und die Dolmetschertätigkeit beinhaltet.

Auf der Ebene der Institutionen zeigt die Fallgeschichte, dass die Interventionen nur in Kooperation mit Schule, Hort, Jugendamt, Heilpädagogen, Sozialarbeitern, usw. möglich ist.

„Für die Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf“ – sagt ein afrikanisches Sprichwort. „Für die Behandlung eines Kindes nach Flucht und Trauma braucht man ein gut funktionierendes Netzwerk verschiedenster Hilfen“ – ist die Zusammenfassung unserer Erfahrung.

Weitere Themen dieses Werkstattberichtes in den kommenden Newslettern des „ Ki-Ju-Teams“ im Refugium sind:

  • Verhaltenstherapie – tiefenpsychologische Therapie – Heilpädagogik – übende Verfahren – spezifische Techniken der Traumatherapie – was spricht für welche Vorgehensweise?
  • Was muss man berücksichtigen, wenn Maßnahmen der Jugendhilfe erforderlich sind, insbesondere bei stationären Jugendhilfe-Maßnahmen (Wohngruppen- und Heim-Unterbringung)?
  • Was können Gutachten erreichen und was muss dabei berücksichtigt werden?
  • Wie gelingt die Arbeit im Helfer-Netzwerk?